Im Frühjahr 2018 wurde die Lippe zur „Flusslandschaft des Jahres 2018/2019" ausgerufen – jetzt neigt sich die Titelträgerschaft dem Ende zu. In einer feierlichen Abschlussveranstaltung würdigten am Sonntag, 29. September, Vertreter aus Politik, Verwaltung und Verbänden im Beisein von NRW-Umweltministerin Ursula Heinen-Esser und Hamms Oberbürgermeister Thomas Hunsteger-Petermann die vielen Aktionen und Erfolge der zweijährigen Patenschaft des Landesfischereiverbands Westfalen und Lippe e.V. und der NaturFreunde Nordrhein-Westfalen. Doch auch etliche Defizite, die der längste Fluss in Nordrhein-Westfalen immer noch aufweist, wurden klar benannt.
In seiner Begrüßung skizzierte André Stinka, Landesvorsitzender der Naturfreunde Nordrhein-Westfalen, die Lippe rückblickend als geradezu prototypisch für die Auszeichnung als Flusslandschaft des Jahres: „Die Lippe ist ein Fluss mit großem Potential, großer Zukunft und großer Beliebtheit." Der Titel sei eine gute Möglichkeit um auf Gewässer hinzuweisen, die besonderer Aufmerksamkeit bedürfen und deren Herausforderungen im Fokus von Politik, Behörden und Öffentlichkeit stehen sollten.
Wie diese Herausforderungen im Fall der Lippe aussehen, zeigte auf eindrückliche Weise Dr. Svenja Storm, Leiterin des Lippe-Projekts beim Landesfischereiverband Westfalen und Lippe e.V., in ihrem Vortrag „Die Flusslandschaft des Jahres 2018/2019 aus Fischperspektive" – und der begann mit einer Warnung: „Wunderschöne Bilder von der Lippe bekommen Sie bei mir heute nicht zu sehen. Ich komme mit harten Fakten!" So konnten die Biologin und ihr Team unter anderem anhand von mit Sendern bestückten Fischen deren Wanderbewegungen exakt aufzeichnen und so die fehlende Durchgängigkeit der Lippe belegen. Dr. Svenja Storm: „Die Lippe ist von der Mündung an aufwärts 80 Kilometer lang durchgängig. Doch dann, schon am Wehr Dahl, dem ersten in der Lippe, ist für die meisten Fische Schluss." Selbst der naturnah angelegte Fischaufstieg am acht Kilometer entfernten Wehr Buddenburg ist für etliche Fische unüberwindbar, wie die Untersuchungen zeigen: „Kleine Fische können die Stufen gar nicht überwinden, und die großen strömungsliebenden Barben stehen unten vor dem Wehr und finden den seitlichen Einstieg zum Aufstieg nicht, weil sie sich an der Hauptströmung orientieren", erklärt die Biologin.
Einem weiteren Defizit kam die Forscherin mit der Erfassung des Rotaugenbestands auf die Spur: In einem Abschnitt bei Bergkamen ist der sonst in der gesamten Lippe vertretene Fisch nicht nachweisbar. Hier wird das erwärmte, stark salzhaltige Grubenwasser aus der ehemaligen Zeche Haus Aden in die Lippe eingeleitet. Dr. Svenja Storm: „Unter der Wasseroberfläche ist kein Lebensraum für Fische und Pflanzen, da ist Wüste. Und das zieht sich kilometerweit hin."
Natürlich macht das Lippe-Projekt auch viele Erfolge sichtbar: Die Quappe konnte wieder angesiedelt werden, bereits 25 der 29 erwarteten Fischarten ließen sich nachweisen, die Renaturierung sorgt für neue Laichplätze und die Lippe bietet jetzt sogar Wiederansiedlungspotenzial für den Lachs. Dennoch: Die fehlende Durchgängigkeit, die schädliche Grubenwassereinleitung, die fehlende Anbindung von Nebengewässern im Unterlauf und die Gefahr durch invasive Arten seien dringende Probleme, die jetzt gelöst werden müssten, sagt Dr. Svenja Storm in ihrem Schlusswort: „Die Lippe ist auf einem guten Weg, aber wir sind noch lange nicht am Ziel. Packen wir es an!"
Johannes Nüsse, Präsident des Fischereiverbands NRW, der stellvertretend auch für den Deutschen Angelfischer-Verband DAFV e.V sprach, erinnerte in seinem Grußwort an die vielfältigen Beiträge der Angler und ihrer Verbände zur Flusslandschaft des Jahres: Angefangen von den vielen ehrenamtlichen Arbeitsstunden bei der Reusenkontrolle und dem Projekt Lippe-Lauschen, das mit QR-Codes und Smartphone gewässerökologische Besonderheiten direkt am Gewässer erklärt, über die erfolgreiche Fachtagung im Haus Vogelsang bis hin zu den im Internet veröffentlichten Video-Clips „Lippe-Bekenntnisse". „In diesen Beiträgen spürt man die Anziehungskraft und das Identifikationspotential der Lippe".
Klar benannte Johannes Nüsse in seinem Beitrag deshalb auch „die verbliebenen Defizite, die von Politik und Behörden jetzt dringend angegangen werden müssen". So forderte er eine vierte Stufe in Klärwerken, um hormonell wirkende Substanzen und Mikroschadstoffe von den Gewässern fernzuhalten. „Die fehlende Durchgängigkeit beeinträchtigt die natürliche Fischbesiedlung der Lippe. Hier muss unverzüglich gehandelt werden, zuallererst an den Wehrstandorten Dahl, Stockum und Boker Heide." Um hier handlungsfähig zu sein, sei es unbedingt nötig, die Anstrengungen zum Flächenerwerb an der Lippe zu verstärken.
Dr. Emanuel Grün vom Lippeverband bestätigte in seinem anschließenden Beitrag, dass das Wehr Dahl und der Lippe Abschnitt in Werne zu den Bereichen zählen, die bald umgestaltet werden sollen: „Wir planen auch weiter, insgesamt gibt es etwa 60 Kilometer, an denen wir bei diesem Megaprojekt in den kommenden Jahren und Jahrzehnten arbeiten werden."
Umweltministerin Ursula Heinen-Esser zeigte sich in ihrem Grußwort beeindruckt von den bisherigen Erfolgen der Renaturierung: „Ich finde es bemerkenswert, wie sich die Natur entwickeln kann, wenn man den Flüssen wieder etwas vom dem Raum zurückgibt, den sie als Lebensraum für die Tier und Pflanzenwelt und für die Hochwasserprävention tatsächlich benötigen. Das ist ein toller Erfolg für die umfangreichen Maßnahmen der letzten Jahre." Als Beispiel nannte sie unter anderem die erfolgreiche Wiederansiedlung der Quappe, deren Bestände sich so gut entwickelt haben, dass nun die begrenzte angelfischereiliche Nutzung der Art erprobt werden soll. Ursula Heinen-Esser: „Was für einen Weg ist man da in kurzer Zeit gegangen. Naturschutz, Naturentwicklung und Naturnutzung gehen hier zusammen. Die Lippe ist ihrem Ziel einer intakten Flusslandschaft von der Quelle bis zur Mündung ein ganzes Stück näher gekommen."
Weitere Grußworte sprachen Hamms Oberbürgermeister Thomas Hunsteger-Petermann sowie der Bundesvorsitzende der Naturfreunde Deutschlands, Michael Müller, und sein Stellvertreter Tilmann Schwenke.
Im Anschluss an die Feier in der Werkstatthalle zogen die Teilnehmer weiter in den Glaselefanten des Maximilianparks. In 29 Meter Höhe erwartete sie hier eine Ausstellung mit 39 Natur- und Tieraufnahmen aus der Flusslandschaft des Jahres 2018/2019. Darunter auch Werke von Dr. Olaf Niepagenkemper. Er ist Beauftragter des Fischereiverbandes NRW e. V. zur Wasserrahmenrichtlinie und zudem ein begeisterter Naturfotograf. Dr. Niepagenkemper: „Mir geht es weniger um das dokumentarische Ablichten von seltenen Tier- und Pflanzenarten, ich möchte lieber die typischen Vertreter in besonderen Lichtstimmungen und interessanten Situationen zeigen." Mit seinen Arbeiten versucht der Naturfotograf, die Menschen für die Schönheit und Einzigartigkeit der Natur zu begeistern, die sich oft schon vor der eigenen Haustür verbergen.